Über die Musik

VON WALTER WAIDOSCH

Der Bogen spannt sich. Der Pfeil trifft den Ton hoch über dem Grundton ‒ einen Adler im Flug, das La. Die Proportion 2/3. Es weicht aus nach unten, um sich nochmals auf seine Höhe aufzuschwingen, die Quinte über dem Grundton re. Fällt dorthin hinab, steigt wieder auf. Biegt einen sehr kleinen halben Ton nach oben ‒ una nota sopra la ‒ zum Ton der Sehnsucht, nur einen von neun Teilen eines Ganztones klein. Taumelt abwärts, um schließlich mit dem Grundton zu verschmelzen. Die Geburt einer Urmelodie.


Walter Waidosch

Walter Waidosch

„Un fior gentil“ ‒ die anmutige Blüte. Eine Frau sitzt am Wasser. Valentina Visconti singt zu ihrer Harfe am Brunnen der Kartause von Pavia. Und um sie alle, die in Italien, in Frankreich und Spanien als Musiker, Dichter, Künstler, Philosophen ihren Beitrag leisten zu einer kulturellen Hochblüte im Herbst des Mittelalters. Sie alle Gäste von Gian Galeazzo Visconti, dem Beherrscher Mailands, ihrem Vater.

Eine edle Blume ist mir erschienen.
O erste Atmung,
zweimal geht sie als Reim,
dann zweimal Fünfzig, die erste,
und alsbald verschwand sie.
Engelsgleich kam sie, um wieder zu erscheinen,
voller Leidenschaft stand sie da, um mich zu richten.
Dann begann sie, mir von ihrer süßen Frucht zu geben.
O weh, auf der ganzen Welt
wird sich so eine Blume nicht finden,
auch wenn man sie sorgfältig sucht.

Verstehe das, wer kann.

Die Urmelodie erscheint als einfaches Lied, das die Kinder singen. Im Klang eines Organetto, im Gloria einer Messe des Zacharias da Teramo. Und dann in seiner Ballata mit dem verrätselten Bild einer Amaryllis.


Un Fior Gentil - altes Notenblatt

Un Fior Gentil - altes Notenblatt

Auf den Spuren dieses Rätsels der „Fior gentil“, der anmutigen Blüte, begeben wir uns auf eine musikalische Reise durch die kulturellen Zentren Italiens und der Provence: auf den Spuren dieser Urmelodie, wie sie bereits im Beginn der marianischen Antiphon „Salve Regina“ ihre erste Ausprägung findet. Die Tanzmusiker der Toskana lassen sie in ihren „Balli“ aufklingen ebenso wie die Laudensänger im umbrischen Cortona und im toskanischen Siena. Florentiner Dichtermusiker wie Landini und Don Paolo spielen und singen manche ihrer zauberhaften Ballate und Madrigali bei den Festen und Abendgesellschaften der „Nobilita“ – beschrieben bei Sacchetti, Alberti und Boccaccio – über Metamorphosen der Melodie. Und in den kunstvoll filigranen Gespinsten und Klanglabyrinthen der „Ars subtilior“ an den Viscontihöfen Pavia und Mailand, in Bologna und im Papstpalast zu Avignon leuchtet sie als Ariadnefaden bei Zacharias da Teramo, Philipotus da Caserta, Matheo da Perugia. Und Jacopo da Bologna, der die Melodie fliegen läßt als „Aquil’altera“: ein stolzer Adler hoch am Himmel.

Von Bernardus de Cluny, einem der päpstlichen Sänger in Avignon, ist uns seine Motette „Apollinis eclipsatur“ überliefert. Wie in der hochragenden Architektur einer spätgotischen Kathedrale verbindet sich über dem Tenor geistlicher Basis („In omnem terram“) das Diesseitige mit dem Unendlichen: eine Liste der päpstlichen Musiker dieser Motette mit ihren besonderen Fähigkeiten steht im Duplum. Und darüber ziehen die Sterne des göttlichen Zodiacus, Pythagoras und Boethius, im Kosmos der klingenden Zahlenproportionen mit Bernard de Cluny ihre Kreisbahnen.


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