Die CD

VON WALTER WAIDOSCH

Als meine Freunde Peter Neubäcker und Hildegard Sourgens die Idee entwickelten, für das neue „Melodyne“ eine CD-Aufnahme mit unserem Ensemble EST! in Auftrag zu geben, traf dieses Ansinnen perfekt auf meine damalige Arbeit an einem Projekt, die Musik des späten Mittelalters an einer Urmelodie zu verfolgen und sinnhaft erlebbar werden zu lassen.

„Un fior gentil“, eine Melodie in verschiedenen Werken des Ars-nova-Musikers und päpstlichen Sängers Zacharias da Teramo (eine der vielen Versionen seines Namens) wurde zum roten Fadens einer Reise durch die Landschaften der spätmittelalterlichen Musik im 14. und 15. Jahrhundert. Sie findet ihre Verwandtschaften in gregorianischen Antiphonae wie dem „Salve regina“ und bei diversen Metamorphosen in Motetten, Liedern und Tänzen - eine Spielwiese von Gestaltungsmöglichkeiten im Stil und mit dem Instrumentarium der Zeit. Aber zudem in ihrer Experimentierfreude mit Klängen und Rhythmen ein Impuls zum Weiterspinnen mit den Tools einer neuen Tonbearbeitung.

 Un Fior Gentil - CD Vorderseite Un Fior Gentil - CD Rückseite


Titelbeschreibungen und Höreindrücke



Ensemble EST! Un Fior Gentil Metamorphosen einer Melodie um 1400

01 Un Fior Gentil - Cantio Ballata des Zacharias da Teramo

Die Melodie ist von Zacharias da Teramo (bei Neapel) überliefert, lässt aber ältere Quellen vermuten. Ein fröhliches Tanzlied, von Kindern gesungen, steht hier am Beginn einer Reise durch die Musik des späten Mittelalters : „Eine edle Blume ist mir erschienen“.

Un fior gentil m’apparse
O aspiratio prima
Ma bina ne va per rima
Poy duy cenquante prima'
e tosto sparse.
Angelicamente venne ad repararse

Passiona‘, passiona‘, passionato
Stando a iudicarme.
Poy commenza a donarme

De quel suo dolze frutto
Ay me che’l mundo tutto
Tal fior non se trovera
a ben cercarse.

Eine edle Blume ist mir erschienen.
O erste Atmung,
zweimal geht sie als Reim,
dann zweimal Fünfzig, die erste,
und alsbald verschwand sie.
Engelsgleich kam sie, um wieder zu erscheinen,

voller Leidenschaft stand sie da,
um mich zu richten.
Dann begann sie, mir von ihrer süßen Frucht zu geben.

O weh, auf der ganzen Welt
wird sich so eine Blume nicht finden,
auch wenn man sie sorgfältig sucht.

Übersetzung: Karin Zeleny

02 Sanctus - Mediolano Messensatz aus Mailand

Quelle: Oxford Bodleian Library Ms.Can.Pat.lat.229

Der anonyme Messensatz - zwei bewegte Discante über einem Gerüst von Tenor und Contratenor - könnte während des Konzils von Pisa im Mailänder Dom erklungen sein. Große Klänge in Räumen, die auch von relativ kleinen Musikercollegien von 8 bis 12 Musikern zum Schwingen gebracht wurden im obertonreichen Klang des Gesangs zu Viellen, Blas -, Zupf- und Percussionsinstrumenten.

Sanctus Dominus Deus Sabaoth
Pleni sunt ciaeli et terra gloria tua
Hosanna in excelsis
Benedictus qui venit in nomine Domini
Hosanna in excelsis

Heiliger Herr Gott Sabaoth
Voll sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit
Hosanna in den Höhen
Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn
Hosanna in den Höhen.

Übersetzung: Karin Zeleny

03 Dal Ciel Venne Messo Novello Weihnachtslauda aus Cortona

Quelle: Cortona VI

Die italienische Lauda des 14. und 15. Jahrhunderts entstand im Umfeld der Universität von Perugia und breitete sich schnell in den Städten Umbriens und der Toscana aus. Sie bildet das musikalische Zentrum einer radikalen Gegenbewegung zu den päpstlichen Kirchen Roms und Avignons, die den Univeralitätsanspruch verloren und in Schisma, gegenseitigen Bannflüchen, in Simonie, ungeschminkten Geld- und Machthunger, Amtsmissbrauch und seelsorgerischen Versagen bei den verheerenden Pesteinfällen und Kriegen jegliche Autorität eingebüßt hatten.

Das verlassene Kirchenvolk feierte seinen Glauben nun, auf Franz von Assisi und seine Armutsbewegung der Minoriten aufbauend, in neuen Formen der Volksfrömmigkeit und in Volkssprache ohne Priester, ohne Kirchen: auf den Plätzen der Städte. Das gemeinsame Lied, der gemeinsame Tanz stehen im Zentrum. Man sang und tanzte die Lieder, deren Refrains oder Ripresen jeder mitsingen konnte, im Wechsel mit dem Vorsänger, der die liedhaften Predigten vieler Strophen hielt, und dem gemeinsam gesungenen und getanzten Refrain.

Eine Lauda, die die Weihnachtsgeschichte erzählt von der Verkündigung des Erzengels Gabriel an. Die Lauda stammt aus der Laudenhandschrift von Cortona 1320.

Dal ciel venne messo novello
ciò fo Angel Gabriello

1. Nella città di Galilea
la vera la gente Iudea
favellavano in lengua ebrea
in città et in castello.

2. ch'e chiamata Nazareth
la una vergene naque e stette
sponsata era a Iosephe
secondo la legge col anello.

3. L'angelo fo messo a Dio
ben comenzo et ben finio
saviamente senza rio
annuntio lo suo libello.

4. Ave Maria gratia plena
Dio ti salvi stella serena
Dio e con teco che ti mena
enn-el paradiso bello.

5. Tu se' regina et elli e reie
virgo Maria credi a meie
non avra fine il dico a teie
lo so regno altissimo e bello.

Vom Himmel kam ein neuer Bote,
und das war der Engel Gabriel.

1. In der Stadt von Galilea,
da waren jüdische Leute,
die redeten in hebräischer Sprache
in der Stadt und in der Burg,

2. die Nazareth genannt wird.
Dort wurde eine Jungfrau geboren und lebte dort,
sie war mit Joseph verlobt,
gemäß dem Gesetz mit dem Ring.

3. Der Engel wurde von Gott gesandt,
er begann gut und endete gut,
mit Anstand und ohne Fehl
verkündete er seine Botschaft.

4. Sei gegrüßt, Maria, voll der Gnaden,
Gott soll dich retten, heiterer Stern,
Gott ist mit Dir, und er führt Dich
ins schöne Paradies.

5. Du bist Königin und er ist König,
Jungfrau Maria, glaub mir:
Seine höchste und schöne Herrschaft,
ich sag es Dir, wird kein Ende haben.

Übersetzung: Karin Zeleny

04 Medee Fu Südfranzösische Ballade

Quelle: Codex Chantilly ca. 1390

Die Dreistimmigkeit dieser Ballade lässt jede der Stimmen Cantus, Tenor und Contratenor in größtmöglicher rhythmischer und tonaler Freiheit sich bewegen. Ihr dichtes Geflecht mit improvisierenden Freiheiten im Contratenor setzt die Melodien in engste Proportionen von Harmonie und Zeit zueinander. Das Prinzip der „minor distantia“ prägt den avantgardistischen Charakter des Liedes: Ein Baum bewegt sich im Wind, der Stamm, die Aste, Zweige, Blätter finden ihre Proportion im Gesamtkunstwerk Gottes, das der Komponist nachzuschaffen versucht.

Es entsteht diese Ballade eines anonymen Musikers der „Ars subtilior“ um 1400, in der das Wirken der Zauberin Medea in Bezug gesetzt wird zur eigenen Geliebten: die Königstochter hilft dem geliebten Jason, in ihrer Heimat Kolchis das goldene Vlies zu rauben, opfert Familie und Heimat und folgt ihrem Geliebten nach Griechenland und in die Katastrophe von Gift, Mord und Feuer.

05 Celi Solem Sequitur Instrumentale Sequenz

Sequenzen gelten als erste Beiträge freier nicht liturgiegebundener Musik in die Choreographie der Messe, oft zum Offertorium. Und werden bald auch als instrumental ausgeführte durchaus virtuose Stücke überliefert. Eine klangliche Brücke in der Improvisation instrumentaler Musik zwischen arabischen Ursprüngen und europäischer Adaption im Mittelalter.

06 Un fior gentil - Organetto Organettoversion des Zacharias

In ihrer kunstvoll schlichten Zweistimmigkeit spricht die Melodie, auf dem Organetto gespielt, die Sprache der „Ars Nova“, wie sie Guillaume de Machaut wesentlich geprägt hatte.

07 Un fior gentil - Gloria Gloria des Zacharias da Teramo

Eine kunstvolle 3-stimmige Vertonung des Gloria über die Urnelodie. Die Tradition, ganze Messen auf der Verarbeitung einer bekannten Melodie aufzubauen, entwickelt sich im Quattrocento bis in die Renaissance zur Hochblüte. Von Zacharias stammen einige dieser Messvertonungen über seine Melodien, die sich offenbar zu „Schlagern“ der Zeit entwickelt hatten.

Gloria in excelsis Deo

et in terra pax hominibus bonae voluntatis.
Laudamus te,
benedicimus te,
adoramus te,
glorificamus te,
gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam,
Domine Deus, Rex caelestis,
Deus Pater omnipotens,
Domine Fili unigenite, Jesu Christe,
Domine Deus, Agnus Dei,
Filius Patris,
qui tollis peccata mundi, miserere nobis;
qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram.
Qui sedes ad dexteram Patris, miserere nobis.
Quoniam tu solus Sanctus,
tu solus Dominus,
tu solus Altissimus, Jesu Christe,
cum Sancto Spiritu:
in gloria Dei Patris. Amen.

Ehre sei Gott in der Höhe

Und Frieden den Menschen auf Erden, die guten Willens sind.
Wir loben Dich, wir preisen Dich,
wir beten Dich an, wir verherrlichen Dich,
wir danken Dir, wegen Deiner großen Glorie.
Herr, Gott, himmlischer Vater, Gott, allmächtiger Vater,
Herr, eingeborener Sohn, Jesus Christus,
Herr, Gott, Lamm Gottes, Sohn des Vaters,
der Du hinwegnimmst die Sünden der Welt,
erbarme Dich unser.
Der Du hinwegnimmst die Sünden der Welt,
empfange unser Gebet.
Der Du sitzest zur Rechten des Vaters,
erbarme Dich unser,
denn Du allein bist heilig,
Du allein Herr, Du allein der Höchste, Jesus Christus,
mit dem Heiligen Geist,
in der Glorie Gottvaters. Amen.

Übersetzung: Karin Zeleny

08 Una Cosa Di Veder Ballata des Don Paolo da Firenze

Quelle: Squarcialuoi Codex

Eine subtile Ballata des Don Paolo da Firenze, wohl auch seinem Lehrmeister, dem blinden Florentiner Organettospieler Francesco Landini, zugeschrieben. Eine aufregend temperamentvolle Tanzmusik in tarantellaähnlichem schnellen Dreischritt, dem „Tripudio“.

09 De Ma Dolour Ballade des Philipotus da Caserta

Philipotus, eine der zentralen Musikerpersönlichkeiten der sogenannten „Ars subtilior“, schreibt in einem Brief von jenen frohen Cantilenen, wie sie die jungen Leute singen. Im Fokus steht bei „De ma dolour“ zwar der Schmerz, den einem jungen Mann die Liebe bereiten muss. Vielleicht hören wir heute die Klänge dieser Zeit anders? Hören ausschließlich die Melancholie der Lieder? Oder sollten wir neue Wege ihrer Interpretation erwägen?

De ma dolour ne puis trouver confort
car en tous cas m'est fortune contrayre.
Languir m'estuet car mis sui a tel port
qu'a mon vouloir ne m'en puis pas retrayre.
Mar vi le jour que vi le doulz viaire
car perdu ay la joiouse pasture
Quant ne la voy, la parfaite figure.

In meinem Schmerz kann ich keinen Trost finden,
denn in jedem Fall stellt Fortuna sich gegen mich.
Sehnsucht bleibt mir, denn ich bin soweit gekommen,
daß nimmer ich mich entziehen könnte, selbst wenn ich wollte.
Unselig der Tag, an dem ich das liebliche Antlitz sah,
denn ich habe das freudenvolle Labsal verloren,
wenn ich sie nicht sehe, die vollkommene Gestalt.

Übersetzung: Karin Zeleny

10 Onne Homo Ad Alta Voce Lauda aus Cortona

„Alle Menschen sollen mit lauter Stimme / das wahre Kreuz preisen!“

Die Legende vom wahren heiligen Kreuz, das laut einer Reliquien- Legende in Pisa angeschwemmt wurde. Die Lauda erzählt auf dieses Wunder hin die Leidensgeschichte Christi

Onne homo ad alta voce
laudi la verace croce!

1. Quanto è digna da laudare
core no lo pò pensare,
lengua no lo pò contare,
la verace sancta croce!

2. Questo legno pretioso
è di legno virtüoso:
lo nimico à confuso
per la forza de la croce.

3. Poi ke Cristo fo pillato,
strectamente fo ligato,
d'ogne parte fo tormentato
e donato a la croce.

4. Iesù Cristo redemptore
come falso bufadore,
come latro e traditore,
fo donato a la croce.

5. San Iovanni evangelista
lo suo core multo era tristo,
quando vidde ‘l suo maiestro
stare innudo in sulla croce.

6. La sua madre è dolente,
multo trista la sua mente:
piange e dole amaramente,
stando a piede de la croce.

7. La sua madre cum dolore
kiama e dice “Dolze amore,
öimé, fillio e signore,
perké fosti posto in croce?”

8. La sua madre dice: “O fillio
aulorito più ke gillio,
perké fo questo consillio
ke morisse nella croce

Alle Menschen sollen mit lauter Stimme
das wahre Kreuz preisen!

1. Wie sehr es würdig ist, gelobt zu werden,
kann kein Herz denken,
kann keine Zunge erzählen,
das wahre heilige Kreuz!

2. Dieses kostbare Holz
ist aus tugendsamem Holz:
Den Feind hat er vernichtet
durch die Kraft des Kreuzes.

3. Seine zarten Glieder
wurden gestreckt und gezogen,
alle blutig,
und ans Kreuz genagelt.

4. Als Christus gefangengenommen wurde,
wurde er eng gefesselt,
überall gefoltert
und ans Kreuz geschlagen.

5. Der hl. Johannes Evangelist
war im Herzen sehr traurig,
als er seinen Herrn sah,
der nackt am Kreuz hing.

6. Seine Mutter ruft ihn mit Schmerz
und sagt: “Süßer Liebster,
o weh, Sohn und Herr,
warum bist Du ans Kreuz geschlagen worden?”

7. Seine Mutter ist voller Schmerz,
sehr traurig ist ihr Sinn:
sie weint und leidet bitterlich,
als sie am Fuß des Kreuzes steht.

8. Seine Mutter sagt: “O Sohn,
schöner als die Lilie,
warum wurde dieser Beschluß gefaßt,
daß Du am Kreuz stirbst?”

Übersetzung: Karin Zeleny

11 Un Fior Gentil Ballata des Zacharias da Teramo

Die weltliche 3-stimmige Ballata über die Urmelodie. Zacharias verbirgt im Text ein Rätsel:
„O erste Atmung, / zweimal geht sie als Reim, / dann zweimal Fünfzig, die erste, / und alsbald verschwand sie.“
Das Rätselwort, das diese Aufnahme auch visuell erfahrbar macht, lautet: AMARYLLIS.

Un fior gentil m’apparse
O aspiratio prima
Ma bina ne va per rima
Poy duy cenquante prima'
e tosto sparse.
Angelicamente venne ad repararse

Passiona‘, passiona‘, passionato
Stando a iudicarme.
Poy commenza a donarme

De quel suo dolze frutto
Ay me che’l mundo tutto
Tal fior non se trovera
a ben cercarse.

Eine edle Blume ist mir erschienen.
O erste Atmung,
zweimal geht sie als Reim,
dann zweimal Fünfzig, die erste,
und alsbald verschwand sie.
Engelsgleich kam sie, um wieder zu erscheinen,

voller Leidenschaft stand sie da,
um mich zu richten.
Dann begann sie, mir von ihrer süßen Frucht zu geben.

O weh, auf der ganzen Welt
wird sich so eine Blume nicht finden,
auch wenn man sie sorgfältig sucht.

Übersetzung: Karin Zeleny

12 Aquil Altera Madrigal des Jacobo da Bononia

Jacopo da Bolognas Madrigal Aquila altera/Creatura gentil/Uccel di Dio, findet sich im prächtigen Codex Squarcialupi. Obwohl das Lied womöglich zur Hochzeit von Giangaleazzo Visconti aus Mailand unter dem Symbol des Adlers mit der Prinzessin Isabella von Valois mit dem Symbol der Taube 1360 erklungen sein konnte: in den zeitgenössischen Diskurs der Musiker und Poeten um die Wahrhaftigkeit und den Wert ihrer Kunst bringt Jacobus da Bononia die Eigenschaften des „edlen Adlers“ ins Spiel. Er hat einen weiten Blick aus unermesslich großer Höhe. Er kann direkt in die Sonne blicken. Und er kennt nur die seiner Kinder an, die das auch vermögen und verstößt die Unfähigen - seine „Justizia“, seine Gerechtigkeit. Auch in der Beurteilung der zeitgenössischen Kunst.

Aquila altera, ferma in su la vetta
Dell’alta mente l’occhio valoroso
Dove tua vita prende suo riposo.
Là è ’l parere, là l’esser beato.

Creatura gentile, animal degno,
salire in alto e rimirar nel sole
singularmente tuo natura vuole.
Là è l’imagine e la perfezione.

Uccel di Dio, insegna di giustizia,
tu hai principalmente chiara gloria
perché nelle grand’opre tu hai vittoria.
Là vidi l’ombra, là la vera essenza.

Erhabener Adler, halte still auf den Gipfel
des hohen Geistes tapferes Auge,
wo Dein Leben seine Ruhe findet.
Dort ist Seligkeit im Scheinen und im Sein.

Edles Geschöpf, würdiges Tier,
Deine Natur will einzig
in die Höhe steigen und tief in die Sonne schauen,
Dort ist das Bild und dort die Vollendung.

Gottesvogel, Zeichen der Gerechtigkeit,
Du hast vor allem helle Herrlichkeit,
denn in den großen Werken ist Dein Sieg.
Dort sah ich den Schatten und dort das wahre Wesen.

Übersetzung: Karin Zeleny

13 Aquil altera - Diminuition Diminuition für Flauto

In den virtuosen Umspielungen und Diminuitionen des Diskantinstruments, einer mittelalterlichen Flaute dolce, ist der Verlauf der Liedmelodie nur noch in der Tenormelodie nachzuvollziehen - ein Beispiel für die hohe Improvisationskunst des späten Mittelalters. Hier besteht eine Brücke zu den Spielpraktiken der Spielleute und der arabischen Musiker in Süditalien und vor allem der iberischen Halbinsel.

14 Salve Regina Marienantiphon

Die marianische Antiphon wird meist zum Stundengebet nach der Vesper gesungen, sie‚ stammt aus dem 11. Jahrhundert. Das Soggetto am Beginn der Antiphon klingt als Urmelodie des „Un fior gentil“. „Salve Regina“ gilt als die „grüne“ Antiphon - sie wird den Sommer über gesungen von der Pfingstzeit bis zum Advent: eine der zentralen Melodien im Kirchenjahr.

Salve, Regina,
mater misericordiae;
Vita, dulcedo et spes nostra, salve.

Ad te clamamus, exsules filii Hevae.
Ad te suspiramus,
gementes et flentes in hac lacrimarum valle.
Eia ergo, Advocata nostra,
illos tuos misericordes oculos
ad nos converte.
Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.
O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria.

Sei gegrüßt, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit,
unser Leben, unsre Wonne
und unsere Hoffnung, sei gegrüßt!

Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas;
zu dir seufzen wir
trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsre Fürsprecherin,
deine barmherzigen Augen
wende uns zu und nach diesem Elend zeige uns Jesus,
die gebenedeite Frucht deines Leibes.
O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.

Übersetzung: Karin Zeleny

15 In Tua Memoria Lauda des Arnold de Lantins

Eine dreistimmige Lauda des aus Flandern stammenden Arnold de Lantins, der in Italien als päpstlicher Sänger an der Seite von Dufay seine Laufbahn in Italien begann und an verschiedenen Höfen sowie in Venedig als Musiker berühmt wurde. Die Lauda preist im Responsorium von Ripresa und Piedi die wunderbaren Eigenschaften der Gottesmutter Maria in ihrer jungfräulichen Geburt und als die zentrale Schutzpatronin in einer Zeit, in der die kirchliche Männerhierarchie durch Schisma, Simonie, Machtmißbrauch und moralischen Niedergang der Priesterschaft jegliche Glaubwürdigkeit bei ihrem Kirchenvolk verloren hatte. Die weibliche Figur der Gottesmutter und Schutzmantelmadonna bildet vor diesem Hintergrund die zentrale Gegenposition.

In tua memoria, virgo mater nata,
Simus ut sit gloria perpes nobis data.

Qui ad te confugium quaerimus securum,
Ne quaquam repudium reverentes durum,
Centrum peripheriae, doctrinae norma,
Et nostrae miseriae tu formarum forma.

Gaude plena gratia, virgo fecundata,
Mundi spes et gloria, mater illibata,
Peccatorum venia, sponsa consecrata,
Sanctorum laetitia, regina beata.

In Deiner Erinnerung, o als Mutter geborene Jungfrau, möchten wir sein,
damit uns ewige Glorie zuteil wird.

Bei Dir bitten wir um sichere Zuflucht
und fürchten keineswegs eine harte Zurückweisung,
o Zentrum der Umgebung, Norm der Lehre,
Du Schönheit aller Schönheiten für unser Elend.

Freu Dich voll der Gnaden, befruchtete Jungfrau,
Hoffnung und Glorie der Welt, unberührte Mutter,
Gnade der Sünder, geheiligte Braut,
Frohsinn der Heiligen, selige Königin.

Übersetzung: Karin Zeleny

16 Apollinis Eclipsatur Motette des Bernard de Cluny Duplum

Die Motette de päpstlichen Musikers spiegelt Musik und Welt auf drei Ebenen: einem geistlichen Tenor als Grundlage, der Tanz der Sterne des Zodiakus im Klang ihrer Proportionen zueinander. Und letztlich mit einer Liste der Musiker des Papsthofes zu Avignon, die wohl diese Motette singen und spielen, beschrieben in ihren Besonderheiten und Vorzügen. Nach der Auffassung dieser Zeit versucht somit der Musiker in seinem Werk, Gottes Erschaffung der Welt mit seinen beschränkten Mittel nachzuschaffen.

Die Motette erklingt zunächst in ihrer dreistimmigen Fassung: zum „Göttlichen“ Tenor und dem Contratenor des Tierkreises fügt sich das Duplum mit der gesungenen Liste der Musiker : „Apollons Licht wird nie verfinstert, / wenn er durch den Dienst der zwölf Tierkreiszeichen sich führen läßt,“

Apollinis eclipsatur
nunquam lux cum peragatur
signorum misterio
bis sex, quibus armonica
fulget arte basilica
musicorum collegio
multiformis figuris,
e quo nitet J. de Muris
modo colorum vario,
Philippus de Vitriaco
acta plura vernant a quo,
ordine multiphario
noscit Henricus Helene
tonorum tenorem bene,
Magni cum Dionisio
Regaudus de Tiramonte
Orpheyco potus fonte,
Robertus de Palatio
actubus petulancia,
fungens gaudet poetria
Guilhermus de Mascaudio,
Egidius de Morino
baritonans cum Garino
quem cognoscat Suessio,
Arnaldus Martini, jugis
philomena, P. de Brugis,
Gaufridus de Barilio
vox quorum mundi climata
penetrat ad algamata,
doxe fruantur bravio!

Apollons Licht wird nie verfinstert,
wenn er durch den Dienst
der zwölf Tierkreiszeichen sich führen läßt,
die der Basilika mit harmonischer Kunst
Glanz verleihen,
durch die Versammlung der Musiker
in vielgestaltigen Zeichen,
aus der Johannes de Muris hervorleuchtet
wegen des abwechslungsreichen Stils seiner Farben,
Philippe de Vitry,
dessen zahlreiche Werke erblühen.
In reichhaltiger Ordnung
kennt Henri d'Helene
gut den Tenor der Tonarten,
gemeinsam mit Denis Le Grant.
Renaud de Tirlemont,
der aus des Orpheus Quelle trank,
Robert du Palais,
mit Mutwillen in seinen Werken.
Bei der Arbeit erfreut sich an der Poesie
Guillaume de Machaut,
Egidius de Murino
baritoniert mit Guarin,
den Soissons kennen sollte,
Arnaud de Saint-Martin-du-Ré,
die ewigsingende Nachtigall Pierre de Bruges,
Godefroy de Baralle.
Sie alle, deren Stimme die Weltgegenden
bis zum Himmel durchdringt,
mögen sich am Siegespreis des Ruhmes erfreuen!

Übersetzung: Karin Zeleny

17 Apollinis eclipsatur - Quadrupulm Motette des Bernard de Cluny Quadruplum

In der Fünfstimmigkeit fügen sich die verschiedenen Textebenen polyphon zur Einheit, das Quadruplum erklingt instrumental, dem Duplum „Apollinis eclipsatur“ fügt sich das Triplum „Pantheon abluitur“ hinzu: „Das Pantheon wird geläutert, der Tempel der Pseudogötter, / und errichtet wird / die Kirche der Heiligen.

Pantheon abluitur,
templum pseudodeorum,
construitur
ecclesia sanctorum,
plus error destruitur
mutavi bonorum;
prima Sancta Trinitas
ibidem veneratur,
gratiam divinitas
ut plene largiatur,
hinc laudum concinitas
majestate collocatur
ierarchias complete
post decem venerari;
laus sequitur prophete
Johannis tam  preclari.
Duodecim athlete
tunc debent collaudari;
martirum vibratio
consequenter laudatur,
confitens flagratio
vicissim decoratur,
virginum fragratio
laude simul fruatur;
nos ubique locorum
his festum celebrare
jubemur singulorum.
Si non constat servare
jus supplent honorum
quos contigit peccare;
nunc caput deprecentur,
istius membra festi
corda nostra laventur;
sic lavate celesti
ne nobis dominentur
proditores scelesti.

Das Pantheon wird geläutert,
der Tempel der Pseudogötter,
und errichtet wird
die Kirche der Heiligen.
Größerer Irrtum wird zerstört,
ich habe der Guten geändert.
Zuerst wird die heilige Dreifaltigkeit hier verehrt,
damit die Göttlichkeit reichlich
Gnade spendet,
dann wird der Wohlklang der Lobgesänge
in Erhabenheit eingesetzt,
danach die zehn Hierarchien
allesamt zu verehren.
Es folgt der Lobpreis
des berühmten Propheten Johannes.
Dann müssen die zwölf Athleten
gepriesen werden,
und daraufhin wird
der Glanz der Märtyrer gelobt,
der Bekennereifer
abwechselnd verherrlicht;
zugleich genießt
der Duft der Jungfrauen sein Lob.
Allerorten
sind wir aufgefordert,
so das Fest aller zu feiern.
Wenn nicht sicher ist, daß sie das Gesetz befolgen,
ersetzen sie das Ehrenvolle.
Denen es gelungen ist zu sündigen,
die besänftigen nun den Höchsten durch Bitten.
Die Mitglieder dieses Festes
mögen unsere Herzen läutern.
Läutert also, ihr Himmlischen,
damit die ruchlosen Verräter
uns nicht beherrschen!

Übersetzung: Karin Zeleny

18 Zodiacum Signis Lustrantibus Contratenor von Apollinis eclipsatur

Der allem zugrunde liegende „göttliche“ Tenor aus Psalm 18,5 „In omnem terram“ wird nur zitiert und nicht gesungen: „In alle Welt ging deren Klang hinaus und deren Worte bis ans Ende des Erdkreises.“

Das Programm des Werkes bildet den Abschluss unserer Reise: die Metamorphose der Urmelodie im Tanz der Sterne des Zodiakus, wie ihn Bernard de Cluny gesehen hat.

Zodiacum signis lustrantibus
armonia Phebi fulgentibus
musicali palam sinergia
Pictagore numerus ter quibus
adequatur preradiantibus
Boetii basis solercia
Bernardus de Cluni mittens energia
artis practice cum theoria
recomendans se subdit omnibus
presentia per salutaria;
musicorum tripli materia
noticiam dat de nominibus.

Während die Zeichen den Tierkreis erleuchten
und durch die Harmonie des Phoebus erglänzen,
offenbar in musikalischer Synergie,
wird ihnen, die da vorausstrahlen,
die Zahl des Pythagoras, dreimal genommen, angepaßt,
aufgrund des Kunstgriffs von des Boethius Basis.
Bernard de Cluny, strahlend vor Energie
der praktischen Kunst samt der Theorie,
empfiehlt sich allen untertänigst
mit den vorliegenden Grußworten.
Die Materie des Triplums
gibt Auskunft über die Namen der Musiker.

Übersetzung: Karin Zeleny